Sorgen um Angehörige und Freunde, leere Regale im Supermarkt, Schulschließungen, finanzielle und existentielle Ängste, rund um die Uhr Nachrichten über eine weltweit angstbesetzte Pandemie sowie Traurigkeit über abgesagte langersehnte Urlaube, Konzerte oder andere Veranstaltungen. In diesen Tagen stehen viele von uns vor einigen Herausforderungen. Zudem herrscht allgemeine Unsicherheit darüber, wie es weitergeht und wie lange es noch dauern wird.
Die folgenden zehn Punkte sollen Sie dabei unterstützen Ihr psychisches Immunsystem in dieser Zeit zu stärken:
1. Akzeptanz
So oft in unserem Leben haben wir unseren Fokus nicht im Hier und Jetzt, sondern in der Vergangenheit oder der Zukunft. Besonders im Moment fragen sich viele, was als nächstes passiert und wie sich die derzeitige Situation auf ihre und die Zukunft anderer auswirken wird.
Die Situation zu „akzeptieren“ bedeutet, im Hier und Jetzt offen zu sein für die Herausforderung, auch wenn das bedeutet etwas zu tun, das man noch nie getan hat.
Akzeptanz bedeutet auch, Erfahrungen bewusst wahrzunehmen und Gedanken und Gefühle kommen und gehen zu lassen. Sie können also z.B. die Traurigkeit über einen langersehnten stornierten Urlaub oder die Überforderung mit Homeoffice und Kindern wahrnehmen, den Gefühlen und Gedanken Raum geben und sie dann auch wieder gehen lassen.
Sie können sich das wie eine Welle vorstellen, die kommt und geht. Wenn Sie im Moment präsent sind und dem Rhythmus der Welle folgen, entsteht Raum für Flexibilität, Mitgefühl und Wahlmöglichkeiten.
Sie haben die Wahl, worauf Sie sich fokussieren möchten und können somit Ihr Handeln beeinflussen. So können Sie vielleicht aus der aktuellen Herausforderung etwas für Sie wertvolles Neues entstehen lassen, seien es z.B. Veränderungen in der Familie oder Ihrem Job, von denen Sie auch später noch profitieren können oder auch neue Fähigkeiten, die Sie aus dieser Zeit mitnehmen können.
2. Sicherheit und Co-Regulation
Wenn wir uns sicher fühlen, sind wir in einem ruhigen Zustand, in dem wir in der Lage sind, uns mit anderen verbunden zu fühlen.
Die damit verbundenen Emotionen und der körperliche Zustand sind über unsere Stimme, Mimik und Gestik erkennbar. So signalisieren z.B. ein freundliches Lächeln, eine ruhige melodische Stimme und Augenkontakt unserem Gegenüber Sicherheit und Einstimmung, sodass wir gegenseitige Verbindungen eingehen können.
Unser Nervensystem benötigt also Hinweise für Sicherheit. Stephen Porges hat den Begriff der Neurozeption geprägt, die einen Prozess beschreibt, durch den unser Nervensystem fortwährend unsere Umgebung auf Risiken überprüft, um optimal auf Hinweise für Sicherheit, Gefahr und potentielle Lebensgefahr reagieren zu können. Den Prozess an sich nehmen wir nicht bewusst wahr, dafür aber die körperlichen Veränderungen, die damit einhergehen, z.B. ein flaues Gefühl im Bauch, einen schnellen Herzschlag oder eine Intuition, dass etwas nicht in Ordnung ist.
Wenn wir die Hinweise für Sicherheit aber nicht mehr bekommen, weil wir z.B. isoliert allein zu Hause sitzen; jeder, den wir treffen, uns aus dem Weg geht, um 1,5 Meter Abstand zu halten; im Supermarkt Aufregung herrscht oder wir auf Freunde treffen, deren Stimme und Mimik Beunruhigung signalisieren, dann gerät unser Körper in einen Zustand von Verteidigung und versucht damit auf die potentielle Gefahr zu reagieren.
Als Menschen haben wir ein starkes Bedürfnis danach uns zu verbinden und über andere zu co-regulieren, aber nun wird uns gesagt, dass wir das nicht tun sollen. Die Priorität ist es, das Virus nicht zu schnell zu übertragen und doch müssen wir gleichzeitig auch die Bedürfnisse unseres Nervensystems verstehen. Es ist wichtig für uns (und unserer Nervensystem) auseinanderzuhalten, dass wir uns isolieren, um uns und andere vor dem Virus zu schützen und nicht vor einander. Wenn wir längere Zeit keinen Kontakt zu anderen haben, reagiert unser Körper darauf mit einer Tendenz zur Negativität. Wir geraten in einen anderen Zustand, in dem wir zu isoliert und übermäßig besorgt sind, uns nicht sicher fühlen und uns die Möglichkeit zur Co-Regulation fehlt.
Also sollten wir Wege finden uns weiterhin mit anderen zu verbinden, z.B. bei einem Spaziergang mit einem Freund/einer Freundin, übers Telefonieren oder Videochats. Das Wichtige dabei ist, dass wir die Stimme einer Person hören, der wir vertrauen und/oder ihr Gesicht sehen. Dabei geht es nicht unbedingt um den Inhalt des Gesprächs, sondern darum dass wir uns verbunden fühlen und co-regulieren und dadurch sicherer fühlen.
Übrigens können wir uns nicht nur über andere Menschen regulieren, sondern auch über ein Haustier oder die Natur. Auch hier kann unser Nervensystem die so wichtigen Hinweise für Sicherheit finden.
3. Struktur im Alltag
Normalerweise hat jeder von uns eine gewisse Struktur in seinem Leben und Termine in seinem Kalender mit Dingen wie Arbeit, Sport, Zeit mit Freunden und vielem mehr, aber im Moment ist das alles anders. Trotzdem Struktur und Routine in den Alltag zu bringen, kann uns dabei helfen ein Gefühl von Sicherheit und Kontrolle zu bekommen, was uns wiederum bei Gefühlen von Hilflosigkeit und Ungewissheit hilft.
So können Sie sich beispielsweise auch weiterhin jeden Tag Ihren Wecker stellen und sich fertig machen, auch wenn Sie derzeit zu Hause sind bzw. von dort aus arbeiten.
Zudem erfüllen wir alle jeden Tag verschiedene Rollen wie z.B. Mutter, Ehefrau, Experte im Beruf, Sohn usw. Da sich zurzeit vieles, was sonst örtlich getrennt war, nun an einem Ort abspielt, kann es schwer sein, diese Rollen wie gewohnt voneinander zu trennen. Dabei kann es hilfreich sein sich kleine Übergangsrituale zu erschaffen, wie z.B. achtsam eine Tasse Tee/Kaffee trinken, bevor man mit dem Homeoffice beginnt oder danach zehn Minuten auf dem Balkon in der Sonne sitzen, bevor dann die Familienzeit kommt.
4. Selbstmitgefühl
Wenn Sie im Moment besorgt und überfordert sind, gehen Sie mit sich selbst wohlwollend und liebevoll um – wie mit einer guten Freundin/einem guten Freund. Es ist eine besondere Situation und niemand erwartet, dass Sie Kinder, Partner, Haushalt und Arbeit genauso gut geregelt bekommen wie unter normalen Umständen.
Kristin Neff beschreibt drei Komponenten von Selbstmitgefühl:
1. Freundlichkeit sich selbst gegenüber
Seien Sie mit sich selbst verständnisvoll, wenn es Ihnen nicht gut geht, etwas nicht klappt oder Sie sich überfordert fühlen, anstatt sich selbst zu kritisieren oder frustriert zu sein.
2. Mitmenschlichkeit
Sie sind nicht allein mit Ihrem Frust und der Überforderung. Die Situation ist für uns alle neu und jeder steht vor seinen individuellen Herausforderungen.
3. Achtsamkeit
Beobachten Sie Ihre Gefühle und Gedanken mit Offenheit und ohne sie zu bewerten. Lassen Sie sie zu und versuchen Sie nicht sie zu ignorieren oder zu verleugnen. Versuchen Sie dabei eine Balance zu finden, den Gedanken und Gefühle genügend Raum zu geben, aber gleichzeitig nicht in ihnen stecken zu bleiben.
5. Dinge tun, die Sie schon lange tun wollten
Tun Sie Dinge, die Sie schon seit langem tun wollten und irgendwie nie so richtig die Zeit dafür hatten. Das können ganz praktische Dinge sein, wie z.B. die Wohnung ausmisten und aufräumen oder etwas reparieren. Es können aber auch Dinge sein, die Sie für sich tun bzw. neue Fähigkeiten, die Sie entwickeln möchten, wie z.B. eine Online-Fortbildung oder das Buch lesen, das Sie schon so lange lesen wollten. Und vielleicht sind es auch Dinge, die Sie mit Ihrer Familie oder Ihrem Partner machen können, für die Ihnen sonst die Energie gefehlt hat, wie z.B. ein gemeinsamer Spieleabend, eine Erkundungstour in die Natur oder gemeinsames Kochen.
Wenn Sie Ihren Fokus auf die Dinge richten, die Sie gerade tun können und dankbar dafür sind, tun Sie sich nicht nur etwas Gutes, sondern stärken damit auch Ihr psychisches Immunsystem.
Im zweiten Teil finden Sie fünf weitere Dinge, die Sie jetzt tun können, um Ihr psychisches Immunsystem zu stärken.
Wenn Sie das Gefühl haben, dass Sie von Ihren Ängsten und Sorgen überwältigt werden, holen Sie sich bitte professionelle Hilfe! Viele Therapeuten bieten derzeit zusätzlich die Möglichkeit von Telefon- und Videosprechstunden an und sind damit weiterhin erreichbar.
Quellen:
Neff, Kristin: „Selbstmitgefühl: Wie wir uns mit unseren Schwächen versöhnen und uns selbst der beste Freund werden“
Porges, Stephen:„The pocket guide to the Polyvagal Theory – The transformative power of feeling safe”
Walser, Robyn: „Acceptance & Commitment Therapy for the Treatment of Post-Traumatic Stress Disorder and Trauma-Related Problems”
Podcast: Psychologists off the clock, Episode 131 (2019)
Podcast: Psychologists off the clock, Episode 134 (2019)
https://centerformsc.org/10-self-compassion-practices-for-covid-19/
https://www.nicabm.com/when-covid19-leaves-clients-feeling-helpless/
https://www.compassionatewellbeing.com/compassion-safe-relating-and-world-change.html