Toleranzfenster

Eine Traumafolgestörung ist eine Stressfolgestörung. Das Toleranzfenster nach Siegel (1999) und Ogden, Minton und Pain (2006) hilft uns besser zu verstehen, was in unserem Nervensystem passiert, wenn wir unter Stress geraten.

Die Grundlagen für unsere Stressregulation werden besonders in den ersten Lebensjahren gelegt. Wenn wir als Kinder Bindungserfahrungen machen mit eingestimmten, präsenten, nährenden und dauerhaft verfügbaren Bindungspersonen, können sich unser Gehirn und Nervensystem optimal entwickeln. So lernen wir in den ersten Lebensjahren uns mithilfe unserer Bindungspersonen zu regulieren (Co-Regulation). Auf Grundlage dieser Erfahrungen können wir nach und nach Selbstregulation erlernen.

Innerhalb des Toleranzfensters befinden wir uns in der optimalen Erregungszone. In diesem Bereich erleben wir die Höhen und Tiefen des Alltags. Es gibt Situationen, die uns an die Grenzen des Toleranzfensters bringen, aber generell können wir Strategien anwenden, um uns innerhalb des Fensters zu halten. So können z.B. eine Prüfungssituation, die Vorbereitung auf ein aufregendes Ereignis oder ein besonders stressiger Tag auf der Arbeit, uns an den oberen Rand unseres Toleranzfensters bringen. Wenn diese Ereignisse dann vorüber sind, landen wir häufig auf der unteren Seite und sind dann besonders müde und haben das dringende Bedürfnis uns zurückzuziehen und auszuruhen, bevor wir uns wieder neuen Aktivitäten zuwenden können.

Die Größe des Toleranzfensters ist bei jedem Menschen individuell. Bei den meisten Menschen, die traumatisiert sind, ist es eher kleiner, da durch schlechte Bindungserfahrungen und Traumatisierungen sich das Nervensystem nicht optimal entwickeln konnte, sodass eine verminderte Stresstoleranz entstehen kann.

In der zweiten Grafik ist zu sehen, dass dieselben An- und Abstiege im Erregungsniveau wie in der ersten Grafik, bei einem kleineren Toleranzfenster viel schneller dazu führen, dass man sich außerhalb von diesem befindet. So können eigentlich ganz normale Veränderungen im Erregungsgrad die Betroffenen aus dem Gleichgewicht bringen. Dabei wird die Toleranzschwelle schon bei relativ geringem Stress überschritten und die Betroffenen reagieren mit einer Über- oder Untererregung, die in der Vergangenheit angemessen war, heute jedoch meistens nicht mehr passend ist.

Wenn wir außerhalb unseres Toleranzfensters sind, befindet sich unser Nervensystem im Überlebensmodus (Kampf, Flucht, Erstarrung).

Im oberen Bereich des Toleranzfensters befinden wir uns in einem Zustand der Übererregung (Hyperarousal). Hier geht unser Nervensystem in den Kampf- oder Fluchtmodus.

Im Bereich unterhalb des Toleranzfensters befinden wir uns in einem Zustand der Untererregung (Hypoarousal), in dem unser Nervensystem sich im Erstarrungsmodus befindet.

Nachfolgend sind Beispiele für die verschiedenen Charakteristika/Symptome der jeweiligen Bereiche aufgeführt:

Übererregung

Ängste, Panikattacken, Wut, Aggression, Nervosität und Unruhe, Schlaflosigkeit, Konzentrationsprobleme, innere Angespanntheit, Misstrauen anderen gegenüber, Herzrasen, hoher Blutdruck, Überwachsamkeit, sich emotional überwältigt fühlen, sich nicht sicher fühlen

Optimale Erregung

Höhen und Tiefen des Alltags können gut bewältigt werden, Entspannung, Gefühl von Sicherheit, Gefühl von Verbundenheit, Flow-Zustände, Emotionen können gut reguliert werden

Untererregung

Depression, Erschöpfung, Dissoziation, chronische Müdigkeit, Gefühl von Sinnlosigkeit, sich allein fühlen, Gefühllosigkeit, Schmerzunempfindlichkeit, sich taub oder wie gelähmt fühlen, sich getrennt fühlen, niedriger Blutdruck, wenig Bewegung, kalte Extremitäten, Verwirrungszustände, sich nicht sicher fühlen

Ziel der Traumatherapie ist unter anderem besser zu verstehen und wahrzunehmen, wann wir uns innerhalb und wann außerhalb unseres Toleranzfensters befinden und daraufhin Strategien anzuwenden, um uns wieder in die optimale Erregungszone begeben zu können. Außerdem soll mithilfe verschiedener Methoden (u.a. Ressourcenarbeit, Imaginations-, Achtsamkeits- und Wahrnehmungsübungen) nach und nach das Toleranzfenster vergrößert werden.

Quellen:

Ogden, Pat und Minton, Kekuni und Pain, Clare (2006): Trauma und Körper. Paderborn: Junfermann Verlag

Siegel, Daniel (2014): Handbuch der Interpersonellen Neurobiologie. Freiburg: Arbor Verlag GmbH